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"Komm, o Tod, du Schlafes Bruder..." vs. "Ich lag in tiefster Todesnacht, du wurdest meine Sonne..."

1968

 

Die alte Hausbibel liegt auf dem Tisch der Großeltern. Das war noch nie der Fall. Ich habe dieses Buch bisher nur im Schlafzimmerschrank gesehen.

Ab und an durfte ich mit Opa oder Oma etwas im Schlafzimmer der Großeltern holen. Manchmal habe ich diesen Raum auch allein „untersucht“. Als Kind beinhaltete dieser Ort für mich etwas Geheimnisvolles. Es war ein Wohnbereich der Großeltern, den ich nicht allein betreten sollte. Warum eigentlich, schnell hineingesehen war er nicht anders als der Raum gegenüber, den meine Mutter mit mir bewohnte. Alte gelb lackierte Möbel mit braunen, unregelmäßig angebrachten Punkten. Nur die Spiegelkommode war anders. Es war ein dreiteiliger Spiegel, dessen äußere Teile mit einem Scharnier einklappbar waren. Wenn ich da meinen Kopf zwischengesteckt habe und die äußeren Teile so weit als möglich zugeklappt bekam war ein fantastisches Ergebnis zu bewundern – ich konnte mein Bild unzählige Male sehen. Jede Winkelveränderung der Außenspiegel brachte ein anderes Bild. Dabei darf mich niemand ertappen.

Nie durfte ich in das Buch hineinsehen. Es war in einem Schuber aus Pappe und lag auf einem Brett ganz oben rechts. Dieser Schrank war immer verschlossen. Da half kein Stöbern. Dabei war der Reiz es zu betrachten besonders groß.

 In dem Buch finde ich viele Illustrationen. Bilder, die die Welt verklärt darstellen. Wichtige Personen sind in ein besonderes Licht gestellt – sie leuchten, ja strahlen. Von den Bildern geht eine besondere Aura aus. Alles wirkt irgendwie friedlich und vollkommen. Ich, etwa acht Jahre, bin gefesselt und fasziniert von den Bildern. Schaue ein Bild nach dem anderen an. Lesen dauert zu lange. Die Bildunterschriften müssen reichen. Ich verweile an manchen Stellen und träume mich in die Bilder und ihre Geschichten hinein.

Ich bin gerade aufgewacht und aus dem Bett gekommen. Es muss in den Ferien sein. Opa ist um diese Zeit meist unterwegs. Die Oma wird sich irgendwo in der Nähe aufhalten. Vielleicht im Garten. Ständig horche ich. Oma hat immer schlagkräftige Argumente. Sie soll mich nicht beim Blättern in dem Buch ertappen.

Vor dem Fenster scheint die Sonne. Es wird bestimmt ein schöner Tag.

Das Buch fesselt mich. Wieder ein neues Bild. Ein Gerippe in einem schwarzen Mantel mit einer Sense. Unter dem Bild steht etwas vom Tod. Ich bin erschrocken. Dieses Bild des Todes prägt sich tief in mein Gedächtnis ein. Alles andere auf diesem Bild wird nebensächlich, unbedeutend. Ich habe Angst. Ich kann diese Angst keinem mitteilen. Ich habe das Buch ohne Erlaubnis betrachtet. Die Sonne des Tages kann meine Einsamkeit und das Bild, das ich immer wieder vor Augen habe, nicht verdrängen. Irgendwie vergeht der Tag. Im Bett ziehe ich ab diesem Tag die Decke um und über mich. Von mir ist kein Stück Haut oder Haar zu sehen. Die Hitze ist mir dabei lästig aber ich muss sie aushalten. Der Tod soll mich nicht finden.

 

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