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Pflegemutter

Liebe Mama,

es fühlt sich komisch an, Dich mit Deinem Titel anzusprechen, den meine Erzeugerin nicht verdient hat. Ich habe Dich Zeit Deines Lebens immer nur bei Deinem Vornamen genannt, und Du hast auch nie darauf bestanden, es anders zu halten. Es ist über die Jahre so gewachsen, in denen wir miteinander umgegangen sind.

Ich habe Dich am 30.04.1974 kennen gelernt. Im letzten Kinderheim, bevor ich endgültig zu meiner Erzeugerin zurück gekehrt bin, weil sie mich mit List, Tücke und einer gehörigen Portion Schauspielerei geködert hatte. Wie so oft, wenn sie spürte, dass sich das Blatt zu meinen Gunsten wendete, weil sich mir ein Mensch zuwandte, der wirklich mein Wohl im Auge hatte.

Es war ein seltsames Erlebnis für mich. Nach einer Fahrt, die mir wie Stunden erschien, wurde ich Deiner Obhut übergeben. In dem Haus, das bald zu meiner ersten richtigen Heimat werden sollte, war es sehr ruhig. Das Haus wirkte riesig auf mich. Ein ewig langer Flur, der von weißen Schränken mit grünen Türen gesäumt war. Ein riesiges Fenster, durch welches das Licht der Sonne flutete.

Ich weiß noch, wie ich Dir beim Einräumen der Wäsche zusah, die Du in aller Ruhe in die Fächer einlegtest. Ich fühlte mich fremd, aber nicht mehr in Gefahr. Es war, als tauchte ich selbst aus den Fluten des Chaos auf, das meine Erzeuger mir geschaffen hatten. Während ich Dich beobachtete, fühlte ich keine Angst mehr. Es schien, als kehrte meine Neugierde zurück, derer mich die Schwestern im Mutterschutzheim so erwähnenswert fanden.

Und ja, es war ein guter Tag für mich.

Wir sind im Laufe der Jahre durch viele Höhen gegangen, in denen ich Dir wohl auch Kummer bereitet habe. Ja, Du hattest manchmal eine Art an Dir, die mir Angst bereitet hat. Wenn es um das Strafen ging, warst Du unerbittlich und nachtragend. Du hast mich erst wieder in Ruhe gelassen, wenn Du der Meinung warst, dass ich genügend gebüßt habe. Das hat mir großen Kummer bereitet und noch mehr Tränen, denn ich wusste, dass Du ansonsten ein Mensche warst, der sein Herz am rechten Fleck trug.

Und Du hattest ja nicht nur mich. Da waren noch die anderen Kinder, die Deiner bedurften, denn eines hast Du uns allen gegeben: Eine Struktur für den Tag, und die Gewissheit, dass jeder einzelne auch den nächsten Morgen erleben würde.

Du warst unermüdlich in Deinem Streben, uns wirklich ein Zuhause zu bieten. Du hast uns an den besonderen Tagen der kommenden Jahre, die ich bei Dir sein durfte, mit einer Hingabe zum Detail frohe Weihnachten bereitet, die noch heute eine Wärme in mir erzeugen, die mir bis dahin unbekannt war. Alleine die Wochen bis zu jenem Fest waren bereits ein Fest, und bei Dir habe ich erfahren dürfen, was es heißt Vorfreude empfinden zu können. Noch heute versetzt es mich in Erstaunen, wie es Dir immer wieder gelungen ist, diese Spannung zu erzeugen. Für jeden von uns, aber ich habe gespürt, dass Du mich auf besondere Weise behandelt hast. Ich durfte Dinge tun, die den anderen nicht gestattet waren.

Ich durfte Dich um Erlaubnis fragen, bei Schulkameraden zu übernachten. Du hast nicht nur mit eiskaltem Wasser dafür gesorgt, dass mir an einem harten Wintertag nicht die Füße erfrieren, weil einer Deiner Untergebenen seine Aufsichtspflicht verletzt hatte.

Sondern mit einer Wärme, die durch Deine rauhe Schale blitzte, dafür gesorgt, dass dieses Heim zu einem besonderen Ort für mich geworden ist. Einen Ort, den ich immer dann besuchen kann, wenn es mir so schlecht geht, dass ich den Mut am Leben verliere. Und ich muss ihn nicht einmal physisch aufsuchen, weil ich ihn in mir trage. Ein sicherer Ort, an dem mir kein Leid zugefügt worden ist, das nicht heilen könnte.

Gewiss, es gab sehr dunkle Stunden, auch an diesem Ort, vor allem wenn Du nicht da warst oder mir böse warst, weil Du Dich persönlich verletzt gefühlt hast. Irgendwie konntest auch Du nicht zwischen einem Kind und einem Erwachsenen unterscheiden, wenn Du glaubtest, dass Dir der Mensch, der Dir Dank schuldet, nicht genug Dank gegeben hat. Aber wir waren Kinder, und ich versichere Dir, mein Schutzengel, dass ich es so nie gemeint habe, wie Du es aufgefasst hast.

Ich wusste damals nicht, dass Du in Bezug auf meine Erzeuger selbst ohnmächtig warst, und dass Du unter den Besuchen dieser Menschen genauso gelitten hast wie ich. Ich habe es gehasst, so tun zu müssen als würde ich mich über deren Besuch freuen. Und wir beide haben gute Miene zu diesem ekelhaften Spiel gemacht. Madame Erzeugerin hatte sogar die Frechheit, sich darüber zu echauffieren, dass sie in diesen Hallen der Ruhe nicht willkommen war, die sie mit ihrer Anwesenheit so rücksichtslos zerstörte, dass es tagelang dauerte, bis ich mich nach ihrem Fortgang wieder einigermaßen beruhigt hatte. Ich wusste nicht, dass auch Du so darunter zu leiden hattest wie ich.

Das Jugendamt hielt das ganze für eine so gute Idee, dass immer wieder diese tiefen Einschnitte in unserer Harmonie stattfanden, die endlich die Wirkung erzielten, die Madame Erzeugerin von Anfang an im Auge hatte, nachdem sie gesehen hatte, wie liebevoll Du Dich um mich gekümmert hast. Und irgendwann hatte sie gewonnen.

Es war eine schreckliche Zeit zwischen uns. Du hast geschwiegen und ich musste schweigen, damit Du meine Tränen nicht zu sehen bekamst, wann immer Du mich geschnitten hast. Das Schweigen zwischen uns legte einen Block aus Eis um mein Herz. Kein Tag, an dem mich der Kummer um den Verlust Deiner Zuneigung nicht zu Boden gedrückt hätte. Und dann war es soweit: Ein Abschied wie er schlimmer nicht hätte sein können.

Wie zwei wildfremde Menschen, als hätte es nie dieses stillschweigende Verstehen gegeben. Ab jenem Tag warst Du nicht mehr meine Mama. Das hattest Du so beschlossen. Du hast keinen Ton mehr mit mir gewechselt. Du hast mir nicht gesagt, dass Du mich noch nicht aufgegeben hast, sondern bist stur Deiner Entscheidung gefolgt, Dich erst nach Deinem Urlaub mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Du hast alles, was je in meinem Zimmer war, einfach auf die Treppe gestellt und warst nicht da, als ich meine Sachen holen kam. Nicht einmal im Augenblick des Abschieds hatten wir eine Möglichkeit, miteinander zu reden.

Und ich habe Dein Schweigen nicht mehr ertragen. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich wollte nur noch weg. Und ich habe dafür einen hohen Preis bezahlt, denn nur einen Tag nach den Sommerferien und der Gewissheit, dass meine Erzeugerin gewonnen hatte, ließ sie ihre Maske fallen.

Erst nachdem ich das 32. Lebensjahr vollendet hatte, wusste ich es: Du warst damals immer noch bereit um mich zu kämpfen. Du hast mich einfach mit der Anweisung sitzen lassen, dass ich mich nicht vom Fleck rühren sollte, bis Du wieder da wärest. Und das einem Pubertierenden, der ohnehin schon um seine nicht vorhandene Identität zu kämpfen hatte.

Ich habe 5 Jahre gebraucht, um Dich und meinen sicheren Ort in meinem Herzen zu begraben, um nicht mehr spüren zu müssen. Um nicht jeden Tag mit diesem Heimweh leben zu müssen. Ich habe angefangen mich zu betäuben. Mit allen möglichen Mitteln. Und ich habe nie aufgehört, Dich zu vergessen. Immer wieder hat es mich an diesen Ort und in Deine Nähe gezogen. Ich wusste nicht einmal, dass Du mir verziehen hattest. Du hast es mich erst im Angesicht Deines Todes wissen lassen, dass Du mich nie aus Deinem Herzen verstoßen hattest.

Und dann erst konnte ich Dir sagen, dass Du meine Mutter warst. Die ersetzt hast, die meine nicht sein wollte. Und ich habe Dir gesagt, dass ich Dich lieb habe, wie ein Sohn seine Mutter lieben kann, wenn sie ihn mit Güte, Respekt und tiefer Zuneigung behandelt. Du hast mir sogar erlaubt, Dich zu füttern, weil Du zu schwach warst, es selbst zu tun. Und da war es als würden unsere Herzen wieder weit: Wir haben uns nur angesehen. Wir haben einander angelächelt und die Nähe, die uns damals gefehlt hat, nachgeholt.

Ich habe Deine Stirn geküsst und Deine eingefallenen Wangen gestreichelt, und Du hast mich mit strahlenden Augen angelächelt. Und es war so, wie ich mir damals gewünscht hätte, dass es zwischen uns beiden sein sollte, als wir so dicht unter einem Dach gewohnt hatten. Einem wunderschönen und gemütlichen Zuhause, das Du erst für Dich und dann für uns beide hergerichtet hattest.

Ich bin unendlich dankbar für Dich, meine geliebte Mama. Ich danke Dir für alles, was Du für mich getan hast. Und ich danke Dir für Deine rauhe Herzlichkeit, die uns beide immer zum Lachen gebracht hat. Was Du mir an körperlicher Nähe nicht geben konntest, das hast Du versucht, mit vielen kleinen Dingen im Alltag auszugleichen. Nichts war Dir zu schwer oder zu anstrengend für mich. Was Du getan hast, tatest Du aus voller Überzeugung und aus ganzem Herzen. Und dafür danke ich Dir. Von ganzem Herzen, in dem Du für immer einen Platz hast.

Am 31.03.2013 bist Du gegangen, weil Du keine Kraft mehr hattest, gegen den Tod zu kämpfen. Aber das musstest Du auch nicht mehr, denn Du hattest im Rahmen Deiner Möglichkeiten wohlgetan.

Sie haben Dir nicht einmal ein Grab mit einem Stein gegönnt. An der Stelle, wo sie Deine sterblichen Überreste anonym der Erde übergeben haben, steht eine winzige Vase mit zwei klitzekleinen Trieben. Fern Deiner Heimat, der Du gerade noch rechtzeitig entfliehen konntest, bevor sie die Mauer geschlossen haben. Ich danke Dir für alles Gute, Mama, das Du für mich getan hast.

Lebe wohl und ruhe Dich aus. Du hast genug gelitten und gekämpft.

In Liebe,

Dein Sohn

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